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Buchtipp: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West – Eine Leidenschaft

Katja Kulin hat mit der Romanbiografie „Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Eine Leidenschaft“ ein berührendes Porträt einer innigen Liebe geschaffen. Auf der Grundlage von Briefen, Tagebüchern und den Werken beider Frauen verfasste Katja Kulin eine sehr persönliche Annäherung an die Beziehung zwischen zwei außergewöhnlichen Autorinnen und Liebenden. Kulin erzählt in lebhaften Situationen die Stationen einer großen Liebe von der ersten Begegnung bis zum Abschied, wobei es ihr gelingt, ihnen ganz nah zu kommen. Da sie jedes Kapitel mit Zitaten aus dem Werk „Orlando“ wie aus Briefen und Tagebüchern der Liebenden einleitet, lassen sich Gedanken und Gefühle ebenso wie die zeitgenössische Darstellung gut erfassen. Das regt zum Nachdenken an, lässt genug Raum für eigene Interpretationen und führt insbesondere zu den Werken beider Schriftstellerinnen.

Die Schriftstellerin Virginia Woolf verband mit Vita Sackville-West eine vielschichtige und mitunter komplizierte Beziehung. Woolf fühlte sich schon 1922 bei ihrer ersten Begegnung mit der zehn Jahre Jüngeren von deren körperlicher Attraktivität angezogen. Sie erschien ihr als „schöne, begabte Aristokratin“, deren Benehmen dem von Schauspielerinnen ähnlich sei, ganz ohne „falsche Schüchternheit oder Bescheidenheit“. Sie sei „ein Grenadier: hart, gutaussehend, männlich“. Mit der zunehmenden Nähe und trotz der Komplexität ihres Charakters war Virginia Woolf von Liebe zu Vita Sackville-West erfüllt: „Ich mag sie, ich mag das Zusammensein mit ihr und ihre Brillanz – sie leuchtet. Das ist das Geheimnis ihres Zaubers.“ Zweifellos war diese große Passion zu Vita Sackville-West für Virginia Woolf eine sexuelle Befreiung, die ihr Leben als Frau genauso veränderte, wie ihr Schreiben.

Vita Sackville-West fühlte sich ihr Leben lang eng verbunden mit Knole House, wo sie aufgewachsen war und wo Porträts und Besitztümer ihrer Ahnen sie stets umgeben hatten. Durch ihre Großmutter mütterlicherseits, einer spanischen Tänzerin, fühlte sie sich ebenso Spanien sehr nah. Diese zwei Aspekte ihrer Herkunft bestimmten ihre Sicht auf die Vergangenheit und die Gegenwart und prägten ihren stilistisch-ästhetischen Geschmack. Sie verband die Schönheit der malerischen englischen Landschaft mit der feurigen Glut der spanischen Sonne, vereinte Englishness und Spanishness in sich, war kreativ und energisch, melancholisch und traurig, lebte zurückgezogen und suchte das Abenteuer. Sie war eine auffallende Erscheinung, auf eine exotische Art schön, groß gewachsen und schlank, liebte elegante Kleidung, war gewandt und charmant in der Konversation.

Leonard Woolf, Virginia Woolfs Mann, war verwundert zu sehen, welche Anziehung sich zwischen beiden Frauen entwickelte. Seiner Ansicht nach hätte kaum jemand gegensätzlicher zu seiner Frau sein können als Vita Sackville-West: „Sie gehörte in der Tat zu einer Welt, die ganz anders war als die unsere, und die lange Reihe der Sackvilles, Dorsets, De La Warrs und Knole mit seinen 365 Zimmern hatte in ihren Geist und ihr Herz eine Zutat gelegt, die uns fremd war und die Intimität anfangs schwer machte.“

Nach anfänglichen Verstimmungen erwachten Liebe und Leidenschaft zwischen beiden. Im Dezember 1925 besuchte Virginia Woolf Vita Sackville-West auf ihrem Landgut Long Barn, und es begann ihre gemeinsame Zeit der Leidenschaft und innigen Vertrautheit, deren Höhepunkt im Jahr 1928 das Erscheinen von Woolfs Roman Orlando kennzeichnete.

Je näher sich beide Frauen kamen, umso intensiver nahm Virginia Woolf auch die fest verankerte Beziehung zwischen Vita Sackville-West und Knole House wahr. Virginia Woolf übersetzte sie in ein literarisches Motiv, schrieb „Orlando“ und sicherte der Geliebten das Geburtshaus gleichsam als ihren unvergänglichen Besitz. Wenige Monate vor dem Erscheinen des Romans war Lord Sackville, der Vater von Vita Sackville-West, im Januar 1928 verstorben – und Knole House für Vita Sackville-West für immer verloren. Den Traditionen der Familie entsprechend konnte eine Frau weder Titel noch Besitz erben.

Wenn der junge Adelige Orlando, der literarische Held, mehrere Jahrhunderte durchlebt, die Welt bereist und sich in eine Frau verwandelt, erzählt Virginia Woolf damit die fiktive Biografie Vita Sackville-Wests. Woolf erfasste in der Darstellung den facettenreichen Charakter als Mann und als Frau, den Vita Sackville-West in sich erlebte. Nigel Nicolson, der jüngste Sohn von Vita Sackville-West und Harold Nicolson, bezeichnete den Roman später daher auch als den „längsten und charmantesten Liebesbrief der Literaturgeschichte“.

Für beide Schriftstellerinnen war die Zeit ihrer größten Nähe inspirierend für ihre literarischen Arbeiten. Nachdem die Leidenschaft verklungen war, blieben sich beide Frauen liebend eng verbunden, auch wenn sie sich selten trafen und Vita Sackville-West Romanzen mit anderen Frauen erlebte.

Die Konzentration Katja Kulins auf bestimmte Szenen, Stimmungen, die in den schriftlichen Äußerungen beider Frauen festgehalten sind, ebenso wie Woolfs literarische Verarbeitung im „Orlando“ lassen diese Beziehung in einer Dichte und Wahrhaftigkeit nachvollziehbar werden, die ergreifend ist. Zugleich zeigt sich in der Thematik des „Orlando“, so wie in der Liebe beider Frauen zueinander, in der Suche, dem Formulieren von Fragen und dem Antworten durch das Leben, dass die Darstellung einer Liebe von vor rund einhundert Jahren moderner und aktueller denn je ist. Katja Kulin erzählt mitreißend, und es gelingt ihr auf spannende Weise, Leerstellen auszufüllen, die die Quellen unbeantwortet lassen. Dieser biografische Roman ist sowohl eine Empfehlung für Kenner der beiden Schriftstellerinnen als auch für all jene, die ihnen das erste Mal begegnen. Zumal das Buch dazu anregt, die Texte beider Schriftstellerinnen umgehend zur Hand zu nehmen.

Katja Kulin
Geliebte Orlando
Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Eine Leidenschaft
256 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8199-4
Dumont Verlag

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