Kontakt | Impressum
 

Buchtipp: 1900

 

 

 

 

 

 

 

Viele, sehr viele Menschen bewegen heute Gedanken, Fragen, Themen, die darum kreisen, was eine naturgemäße Lebensweise bedeutet. Wie wollen wir leben? Wie wollen wir uns ernähren? Wie wollen wir mit der Natur umgehen? Wie können wir eins sein mit der Natur und zugleich ein erfülltes Mensch-Sein gestalten?
Neu sind diese Überlegungen nicht. Immer wieder gab es Zeiten, da sich die Menschen fragten, ist unser Weg richtig. Vor rund einhundert Jahren bestimmten Fragen wie diese die Vorstellung zweier Generationen. Der einen noch geprägt von der Welt des Fin de Siècle und der anderen, die bereits in die Welt der Großstädte hineingewachsen war.

Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen Lebenserfahrungen und Berufen empfanden ein diffuses Unbehagen. Manche von ihnen machten sich auf die Suche und einige versammelten sich auf dem Monte Verità zu einem ungewöhlichen Experiment. Hier in der südlichen Schweiz, nicht weit von Italien entfernt, versuchten sie den Regeln der modernen Gesellschaften zu entkommen. Sie wollten ein gutes Leben führen und lebten vegetarisch, nackt und individuell bis individualistisch. Aus knapp zwanzig Jahren der widersprüchlichen Existenz des Monte Verità erwuchs ein Mythos, der bis heute Strahlkraft besitzt.

Wie sie ihren Weg dorthin fanden, was sie dazu bewegte und wie dieses Leben aussah, verfolgt der Autor Peter Michalzik in seinem 414 Seiten umfassenden Buch „1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies“. Wie in einem Puzzle setzt er Stück für Stück Lebensgeschichten, Träume, Ideen und Illusionen zusammen. Leben, Denken, Handeln von Suchenden, wie Leo Tolstoi, Friedrich Nietzsche, Herrmann Hesse, Max Weber und zahlreichen Initiatoren wie Besuchern des berühmt-berüchtigten Berges spürt er nach.

Irgendwie kommen alle, die zu dieser Zeit Rang und Namen hatten oder entwickelten, zur Sprache. Sicher, manches ist bekannt, manches verästelt. Aber die Art, wie Peter Michalzik diese Geschichte erzählt, ist spannend und berührend zugleich. In verständlichen, klaren Worten nähert er sich komplexen Inhalten, wie Körperkult, Psychologie, freie Liebe, moderner Tanz, Pazifismus, Wellness und Vegetarismus. Stets nimmt er den einzelnen Menschen in den Blick und verbindet dann sein Leben mit all den anderen Zeitgenossen. Er nimmt den Mythos zur Kenntnis, weiß, dass sich dieser immer wieder dazwischenschiebt, doch er möchte „die Geschichte dieser Zeit erzählen“ und zwar, wie er sagt, „aus seinem Inneren heraus“ (S. 410).

Dabei erfasst er diese Geschichte in zwei Phasen und orientiert sich an den unterschiedlichen Formen der Überlieferung. So verläuft die Erinnerung an die erste Phase über Schriften, meist im Sinne von Programmschriften, Artikeln, Broschüren und Zeitungsberichten. Eine Annäherung an die zweite Phase kann nur indirekt über Briefe, Tagebücher, Biografien und Romane, in denen mancher Besucher seine Erlebnisse verarbeitete, vollzogen werden. Um all dies zusammenzuführen, entwickelt Peter Michalzik eine feinfühlige, zugleich sachliche Sprache, erzählt Anekdoten und entwirft kleine Szenen, die sich in kurzen, manchmal längeren Passagen aneinanderreihen.
Erstaunlicher Weise verliert man als Leser angesichts der Fülle der Namen nicht den Anschluss. Ganz im Gegenteil möchte man wissen, wie es mit der oder dem weitergeht. In einigen Augenblicken fühlt man sich dem Geschehen so nah, eben weil die Gedankenwelt um 1900 in so vielen Bereichen mit den aktuellen Fragenstellungen übereinstimmt. Schon ist man als Leser mitten drin und beginnt sich selbst, eine Position in diesem widersprüchlichen Weltbild der Jahrhundertwende zu erarbeiten. Was sind schon einhundert Jahre? War das nicht die Lebenszeit unserer Urgroßmütter?

Peter Michalzik ist eine große Erzählung über eine wichtige Epoche moderner Geschichte gelungen, die man einfach in einem Zug durchlesen muss, weil diese Glückssuche auf einem Berg im Süden nicht nur Geschichte präsentiert, sondern immer noch gegenwärtig ist. Vielleicht birgt gerade das Scheitern dieser sozialen Utopie dessen Energie, die gesellschaftliche Veränderungen antreibt, die wir täglich mitgestalten können.

Peter Michalzik
1900
Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies
414 Seiten, gebunden mit Lesebändchen
Erscheinungstag: 12.03.2018
ISBN 978-3-8321-9873-2

Herzlichen Dank an den Dumont Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.

Veröffentlicht unter Allgemein | Hinterlasse einen Kommentar

Kommentare sind geschlossen.