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Augenfasten. Die Zittauer Fastentücher

 

Sie betraten die Kirche voller Ehrfurcht. Sie waren Gläubige. Kerzenschein, Weihrauch und die leisen Gebete der Gläubigen hüllten sie ein, erfassten sie. Sie waren vom Fasten geschwächt, doch voller Hoffnung und Vorfreude. Noch war ihnen der Blick auf den Altar verwehrt. Ein großes Leinentuch hing von der Kirchendecke herab und verdeckte den Gekreuzigten und meist den gesamten Altarraum. Auch die Augen sollten fasten. Alles war eine Vorbereitung auf das Osterfest. Gemeinsam beklagten sie den Kreuzestod Christi. Geist und Leib bereiteten sich vor, indem sie darbten.
Von Aschermittwoch bis zum Ostersonntag wurde die Zeit lang. Endlich. Ostern. Mit der Auferstehung des Herrn feierten sie gemeinsam die Hoffnung auf das Leben, denn der Mensch gewordene Gott besiegte den Tod. Auf einmal war alles klar zu erkennen. Der Altar zeigte ihnen wieder den für ihre Sünden getöteten und auferstanden Christus, umgeben von Heiligen, Engeln und goldverzierten Ornamenten, Blumen und Symbolen. Das Fastentuch gab den Blick wieder frei. Wie ausdrucksstark, wie intensiv erlebten sie diesen Moment. Die Augen voller Glanz kehrten sie heim und gaben nun auch dem Leib die lange vermisste Speise.

Fastentücher, von den Zeitgenossen auch Hungertücher, Palmtücher oder Passionstücher genannt, waren seit dem Mittelalter ein wesentliches Element der religiösen Praxis. Zunächst waren es sehr einfache Tücher in Weiß oder Violett, den liturgischen Farben der Trauer, der Buße und des Fastens. Später verwandelten sich die Fastentücher in wahre Kunstwerke, als auf ihnen ähnlich wie auf den Glasfenstern biblische Geschichten in Bildern erzählt wurden. Mit der Reformation veränderte sich die volkstümliche Frömmigkeit der Menschen und in evangelischen wie in katholischen Regionen wurden sie kaum noch genutzt.
Das Wissen darüber ist spärlich. Aus Leinen gewebte Stoffe haben sich nur selten überliefert. Textilien sind nach so langer Zeit meist zerfallen. Nachdem sie aus der Mode gekommen waren, werden sie irgendwo in einem Schrank oder einer Kiste verschwunden sein. Vergessen und von den nachfolgenden Generationen von der einen Ecke in die andere umgestellt, von Motten und Mäusen zerfressen bis sie sich aufgelöst haben.

Doch nicht überall. Von den bildreichen Fastentüchern, genannt der Feldertyp, und dem zweiten Typ, genannt „Arma-Christi“ (da sie die Leidenswerkzeuge zeigen) haben sich wenige Exemplare in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz erhalten.

Wer diese Zeugnisse mittelalterlichen Glaubens betrachten möchte, dem sei eine Reise in die sächsische Stadt Zittau im Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Polen empfohlen. Denn der historische Zufall wollte es, dass sich in Zittau je ein Exemplar eines jeden Typs erhalten haben. Ein 56 Quadratmeter großes Tuch mit biblischen Geschichten und ein rund 15 Quadratmeter großes „Arma-Christi-Tuch“. Erstaunlich genug. Zählt doch das 1472 angefertigte Große Fastentuch nach Aussage von Kunsthistorikern zu den bedeutendsten Exemplaren, als Textilarbeit vergleichbar dem Teppich von Bayeux. Abenteuerlich klingt seine Überlieferungsgeschichte, fast ein Kulturkrimi.

Zweihundert Jahre lang zeigte das große Leinentuch die Fastenzeit in St. Johannis an. Im 19. Jahrhundert wurde es als Zeugnis mittelalterlicher Religiosität und Kunstfertigkeit geschätzt und 34 Jahre lang im Museum des Altertumsvereins in Dresden ausgestellt. 1876 kehrte es nach Zittau zurück, wahrscheinlich, um es als museales Objekt zu präsentieren.
Ein glücklicher Umstand, denn das Dresdner Museum brannte im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges aus, während die Zittauer das Kunstwerk in einem bombensicheren Keller auf der nahen Burg Oybin in Sicherheit brachten. Hier fanden es russische Soldaten. Zerschnitten diente es ihnen als Dampfsperre in einem provisorischen Dampfbad im Wald. Als sie abrückten, ließen sie die Stoffteile liegen, die ein alter Mann beim Holzsammeln entdeckte.
Doch das offizielle Interesse an diesem Kunstwerk war zu DDR-Zeiten gering. Erst nach der Wende engagierten sich Kunstbegeisterte, die nach Restaurierungsmöglichkeiten suchten. Wieder brauchte es eine glückliche Fügung. Denn aufgrund der überragenden kunstgeschichtlichen Bedeutung übernahm die schweizerische Abegg-Stiftung in Riggisberg bei Bern die unentgeltliche Restaurierung. Seit 1999 ist das 6,80 Meter breite und 8,20 Meter lange Tuch im Museum Kirche zum Heiligen Kreuz in der größten Museumsvitrine der Welt zu bestaunen. Auf 90 Bildfeldern erzählt es die Geschichte Gottes mit den Menschen, von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht.

Das kleine Zittauer Fastentuch wurde erst nach der Reformation im Jahre 1573 als zweites Fastentuch für die nun evangelische Hauptkirche St. Johannis gefertigt. 99 Jahre lang genutzt, ging es Mitte des 19. Jahrhunderts in den Bestand des Stadtmuseums über, wo es regelmäßig bis in die späten 1960er Jahre, dann aus konservatorischen Gründen nur noch zu besonderen Anlässen gezeigt wurde. Ebenfalls von der Textilrestaurierungswerkstatt der Abegg-Stiftung gereinigt, entfaltet es im klösterlichen Ambiente des Kulturhistorischen Museum Franziskanerkloster heute eine faszinierende Wirkung auf die Besucher.

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2 Antworten zu “Augenfasten. Die Zittauer Fastentücher”

  1. Editha Weber sagt:

    Freut mich. Ist wirklich sehenswert.

  2. Matthias Krüger sagt:

    Toller Tipp. Danke.

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