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Unterm Mistelzweig

 

Sie kennen den englischen Brauch: kiss and go. Wer sich unter dem Mistelstrauch begegnet, darf sich küssen. Jeder Engländer weiß: „no Mistletoe, no luck“ – keine Mistel, kein Glück. Es muss was mit Fruchtbarkeit zu tun haben. Als Vegetationssegen und Symbol für die Wintersonnenwende ist es in europäische Mythen eingegangen. Die Engländer – wer sonst! – haben es für uns Europäer bewahrt und seit Jahren schwappt dieser Brauch, einen Mistelzweig oben am Türrahmen zu befestigen und sich bei einer mehr oder weniger zufälligen Begegnung darunter zu küssen, zu uns herüber. Eigentlich doch sehr schön. Unsere Zwillinge lieben ihn. Sie sind jetzt fünf und hüpfen um die Wette, um den unendlich hoch gehängten Zweig zu erhaschen. Das mit dem Küssen finden beide eher befremdlich. Das wird sich ändern, prophezeie ich.

 

Mistelzweige
Jedes Jahr kaufe ich auf dem Wenigemarkt vor der Ägidienkirche einen Zweig Viscum album, wie die Mistel lateinisch heißt. Die Marktfrau, eine resolute ältere Dame, kenne ich seit Jahren. Ich kaufe gerne bei ihr ein, weil wir uns stets gut unterhalten. Wir tauschen uns lebhaft aus, reden über vieles, nie über Politik. Aus ihren Erzählungen kann ich mir gut ein Bild von ihrem verstorbenen Mann machen. Sie erwähnt ihn oft. Er muss sehr belesen gewesen sein. Während sie allerlei alte Pflanzen- und Gemüsesorten anbaute, erforschte er deren Geschichte und Bedeutung.

Bei meinem letzten Einkauf war es stürmisch und kaum ein weiterer Kunde auf dem Markt zu entdecken. Sie erzählte mir von der Mistel. Als Halb-Schmarotzer wächst sie auf Bäumen, blüht im Februar/März und zeigt ihre Früchte im November/Dezember. Äußerst ungewöhnlich für eine Pflanze. Selbst ihre Wurzeln streben nicht bedingt durch die Schwerkraft dem Erdboden zu. Öffnet man die Wirtspflanze sind sie kaum zu erkennen. Vögel verbreiten ihre Samen mit dem Kot und es dauert oft bis zu einem Jahr bis eine Saugwurzel in einen Apfelbaum, eine Pappel, einen Ahorn oder eine Kiefer eindringt. Diese Bäume bevorzugt die Mistel. Selten finden wir sie in Eichen, nie in Buchen. Oft entdecken wir Misteln erst im Herbst, wenn die Blätter fallen. Denn sie wächst selbst hinter einem dichten Blätterdach, so dass Misteln uns gerade im Herbst und Winter zu einem Symbol des Wachsens werden.

Plötzlich erinnerte ich mich an Ada, die junge zierliche Irin mit den tausend Sommersprossen und hellrotem Haar. Denn unter dem Mistelzweig habe ich sie geküsst. Da hatte ich den in Britain verschwenderisch gepflegten Brauch gerade erst kennen gelernt. Denn reichlich werden dort in den Häusern Mistelzweige aufgehängt, während sie in den Kirchen nicht als Schmuck erlaubt sind. Die anglikanische Kirche hält die Mistel nach wie vor für ein heidnisches Symbol. Während ich der Marktfrau meine Jugendgeschichte erzählte, schmunzelte sie und goss für uns zwei Tassen heißen Tee ein. Auf einmal wurde mir warm. Ob das der Tee war oder die Erinnerung an meine erste große Liebe…

Es war das erstes Weihnachtsfest ohne meine Eltern. Denn seit September studierte ich für ein Auslandssemester in Edinburgh. Anfang Februar war das zu Ende. Der Rückflug war schon gebucht. Über die Feiertage nach Hause zu fliegen, lohnte sich einfach nicht. Kurz gesagt, ich war froh, der idealisierten beschaulichen Atmosphäre deutscher Weihnachtlichkeit zu entfliehen. Drei Jungs von meiner Etage im Studentenwohnheim, ein paar Leute vom Botanik-Seminar und einige Leute, die der eine oder andere mitgebracht hatte, trafen sich zu einem Christmas Dinner in der großen Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss des Internats. Ein paar Studentinnen aus verschiedenen Jahrgängen, unter ihnen Ada, hatten Kränze geflochten, Girlanden aufgehängt und auf dem Tisch mit Efeu umrankte Platzsets kunstvoll arrangiert. Der Hausmeister hatte uns am Morgen noch eine kleine Tanne angeschleppt, die die Mädchen natürlich längst über und über mit bunten Kugeln und unterschiedlich großen Kerzen verziert hatten. Wir drei, Ben, Tom und ich waren die Köche des Abends. Wir versuchten uns mit allerlei Englischem oder was wir dafür hielten. Es gab Truthahn, leider etwas versalzen, Rosenkohl, Karotten und Bratkartoffeln. Das beste war der Christmas Pudding, der traditionell mit Brandy Butter serviert wird. Letzteres hatten wir allerdings fertig gekauft – was wir natürlich für uns behielten.

Nach dem Essen saßen wir lange zusammen, redeten viel, vor allem viel Unsinn, und tranken ausgiebig Rotwein. Mir gegenüber saß Ada. Sie studierte Chemie und wohnte auf der selben Etage. Ihre hellroten Haare glänzten und wirkten wie ein festlichen Schmuck, den sie für diesen Abend angelegt zu haben schien. Schließlich waren alle Flaschen leer. Ich erklärte mich bereit, zum Off-License zu laufen, einem Laden um die Ecke, wo man bis spät in die Nacht noch Bier kaufen konnte. Schwer bepackt kehrte ich nach kurzer Zeit zurück. Ada sah mich als erste, sprang auf und nahm mir besorgt die oben auf dem seitlich aufreißenden Karton liegenden Dosen ab. Wir standen direkt unter dem Türrahmen, so dass mir der Mistelzweig fast an der Wollmütze hängenblieb. Ich küsste sie. Mehr wie nebenbei. Mein Herz klopfte heftig und entschuldigend verwies ich mit der rechten Schulter hinauf zum Mistelzweig über uns. Ada stand wie erstarrt vor mir, die Hände voller eiskalter Bierdosen. Ihr Gesicht glühte, so dass ihre unzähligen blassen Sommersprossen wie kleine helle Sterne aussahen. Dann senkte sie den Blick, lächelte spitzbübisch und verkündete im Umdrehen und mit den in die Höhe gehaltenen Bierdosen die Ankunft des Nachschubs.

Die anderen nahmen keine Notiz von uns. Ich zog meine Jacke aus und setzte mich auf den Küchenhocker vors Fenster. Ich versuchte mich auf die Gespräche zu konzentrieren, was mir nicht gelang. Ich wollte Ada nicht anstarren. Irgendwie richteten sich meine Augen wie ferngesteuert ständig auf sie. Nach einer Weile verabschiedeten sich die Mädchen. Schon vor dem Essen hatte Ada erzählt, dass sie am nächsten früh mit ihrer Cousine nach Hause fuhr, in ein kleines irisches Dorf. So wie Ada hatte ich mir immer eine Irin vorgestellt. Dass die Haare gefärbt waren, entdeckte ich, als sie mit einem, wie einem Turban um den Kopf geschlungenen Handtuch in der Küche saß. An der linken Schläfe lief ein rötliches Rinnsal ihr Gesicht herunter. Als sie es bemerkte, lachte sie und verriet ihr „irisches“ Geheimnis.

Der Januar wurde stressig. Ich brauchte noch einige Abschlusstests und wollte unbedingt an den Prüfungen teilnehmen, die für die ausländischen Studenten freiwillig waren. Ohne die Prüfungen wären mir die Seminare an der Uni in Deutschland nicht angerechnet worden. Ada sah ich selten und wenn doch, brachte ich außer einem Hello kaum etwas heraus. Ihre Sommersprossen schienen mir jetzt noch heller, aber ihre Haare leuchteten dunkler denn je. Anfang Februar ging mein Flug nach Hamburg. Für den Abend davor hatte ich mich mit einigen Leuten zum Abschiedstrunk verabredet. Ada kam nicht mit. Irgendjemand erzählte, sie sei krank. Als ich das hörte, verging mir die Lust noch länger zu bleiben. Ich trank noch ein Pint Guinness, verabschiedete mich rasch und lief lange durch die leeren Straßen. Ich war enttäuscht, wütend auf mich selbst, dass ich nie den Mut gefunden hatte, sie auf einen Kaffee oder ein Bier einzuladen. In dieser Nacht fand ich keine Ruhe, lag auf dem Bett im leergeräumten Zimmer und starrte an die Decke bis draußen die ersten Autos zu hören waren.

Zurück in Deutschland dachte ich zunächst oft an sie. Irgendwann nicht mehr. Seit unsere Zwillinge auf der Welt sind, lese ich ihnen stundenlang Märchen vor, bastle vor allem zu Weihnachten mit ihnen und kaufe eben Tannengrün und Mistelzweige auf dem Markt. Allerdings ist es Katharina, die all das zum Schmücken des Hauses verwendet. Mir gefällt es, den zwei Rackern sowieso. Besonders wenn die beiden Tannenzweige abreißen und Girlanden herunterziehen.

In diesem Jahr hänge ich den Mistelzweig auf. Und ich werde keine Gelegenheit verpassen, Katharina unter dem Mistelzweig stehend, zu küssen. Von Ada erzähle ich lieber nicht.

DDame versteckt hinter Mistel

Veröffentlicht unter Allgemein, Auf Reisen, England | Hinterlasse einen Kommentar

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