Rostock am Morgen. Grau und trüb, Schneeregen über der Warnow bei gefühlten Minusgraden. Wir wollen auf die Insel Rügen. Es ist schließlich Frühling, wie der Kalender sagt. Das Wetter widerspricht dem. Auf der alten Hansestraße geht es Richtung Stralsund. Rügen ist mit etwa 926 Quadratkilometern Fläche und einer 570 Kilometer langen Küste Deutschlands größte Insel und immer eine Reise wert.
Die neue Rügenbrücke überquerend erreichen wir das Archipel. Denn eigentlich könnte man Rügen so nennen. Um das Mutterland mit dem Verwaltungszentrum Bergen gruppieren sich im Norden die Halbinsel Wittow, im Nordosten die Halbinsel Jasmund, im Südosten liegt die Halbinsel Mönchgut, im Süden die Halbinsel Zudar und im Rügenschen Bodden die kleine Insel Vilm. Im Westen befindet sich die Insel Ummanz, die über eine kleine Brücke zu erreichen ist, und noch weiter westlich liegt die Insel Hiddensee wie ein schützendes Bollwerk vor Rügen. Das ist noch nicht alles, denn weitere kleinere Inseln und Halbinseln kommen hinzu.
Auf der Insel angelangt, biegen wir in Samtens Richtung Garz ab. Auf der alten Bäderstraße durchfahren wir kleine Dörfer, sehen alte reetgedeckte Häuser, backsteinerne Dorfkirchen mit spitzen Kirchtürmen und passieren dicht bewachsende Alleestraßen. Ohne schützendes Blätterdach sieht alles etwas ungewohnt aus, nicht uninteressant, aber eben keine Postkartenidylle.
Putbus empfängt uns menschenleer. Allein die weißen Häuser um den Markt mit dem klassizistischen Theater, dem schmucken wappengeschmückten Rathaus und dem rechts der Straße gelegenen Park mit der Kirche, die einst Kursalon war, kündigen an, dass hier ein Schöngeist bauen ließ.
Fürst Wilhelm Malte I. zu Putbus beauftragte vorausschauend und inspiriert vom ersten deutschen Seebad Heiligendamm die Anlage dieses eleganten Ortes. Gestalterischer Höhepunkt ist der Circus, ein kreisrunder Platz gesäumt von 16 weißen, zwei- und dreigeschossigen Gebäuden, in dessen Mitte sich ein 19 Meter hoher, von einer fürstlichen Krone geschmückter Obelisk befindet. Er erinnert jeden Betrachter an die Gründung des Ortes im Jahre 1810.
Von hier führt ein Weg zum Hafen in Lauterbach und zum ehemaligen Badehaus Goor. Da das Badeleben dort nicht den wachsenden Bedürfnissen nach Luxus und Gesellschaft genügte, veranlasste der Fürst die Erschaffung des Ostseebades Binz. Dahin wollen wir jetzt und passieren zunächst den Bahnhof der Schmalspurbahn Rasender Roland am Ortsausgang von Putbus.
Es folgt das Dorf Vilmnitz mit der Grablege der Fürsten in der kleinen Kirche des Ortes. Nach dem Abzweig, der Richtung Südosten zu den Seebädern Sellin (wo die Deutsche Alleenstraße beginnt) und Göhren führt, ist rechts der Fahrbahn der Parkplatz unterhalb des Jagdschlosses Granitz zu sehen. Autos parken heute nicht hier. Ist das Schloss geschlossen oder ist es den Rügenbesuchern zu kalt im Gemäuer? Fest steht, dass das Jadgschloss Granitz dem Fürsten als unabdingliche Vollendung für seinen Traum vom herrschaftlich-eleganten Sommer-Ferien-Badevergnügen auf Rügen erschien. Ganz so wie es Tausende Touristen jedes Jahr aufs Neue erleben. Darin sind sich die Geister des frühen 19. und frühen 21. Jahrhunderts einig.
Binz ist herrlich! Die Wolken reißen fast etwas auf, so dass die Sonne zu erahnen ist. Vielleicht ist das nur ein Wunschtraum, aber der stürmische Wind und das mit wogenden Wellen an den Strand brausende Meer verzaubern diesen Tag. Tief atmen wir die leicht salzhaltige Meerluft ein, essen ein Fischbrötchen mit langsam vor Kälte erstarrenden Fingern und träumen von der Sommerfrische.
Dass es heute gar keine Strandkörbe vor der Kulisse des Kurhaushotels gibt, vermittelt einen kleinen Eindruck von der Zeit als der Ort von einer Handvoll Fischer besiedelt war. Im Nebeldunst zeigt sich die gegenüber gelegene Kreideküste von Jasmund – nur für Augenblicke. Geheimnisvoll verschwinden die weißen Cliffs und nähren die Neugier. Weiter. Wir brechen auf zum Königsstuhl.
Vorbei an Prora, Neu Mukran und durch Sassnitz führt die Straße schließlich durch den Winterwald des Jasmunder Nationalparks. Zu beiden Seiten liegen im Wald umgestürzte Bäume. Kahle Buchenstämme ragen aus einer dünnen Schneedecke hervor. Auf dem Parkplatz vor dem Königsstuhl liegt auch noch Schnee. Kleine Gruppen von Menschen sind zu beobachten, wie sie zur Plattform des Königsstuhls oder in Richtung zur Viktoriasicht aufbrechen.
Erst den Königsstuhl betreten. Das muss sein. Der Wind ist kalt, laut ist das Brausen des Meeres vom 117 Meter tiefer gelegenen Strand zu hören. Die Bäume sind märchenhaft mit kleinen Schneekristallen überzogen. Oder ist das gefrorener Kreidestaub? Weit liegt das Meer vor uns. Wie Ewigkeit, schön und unheimlich zugleich. Jetzt wird es zu kalt, zurück ins Museum und Eintauchen ist die Geschichte der Kreideküste.
Welche Wegbeschreibung wähle ich: Abenteuer, Schönheit oder Neugier? Der Fahrstuhl im Museum führt hinab und zurück in der Zeit. Die Kopfhörer auf den Ohren, die Augen auf die zerrinnende Zeit in der Sanduhr gerichtet und schon sind 70 Millionen Jahre verüber. Auf einmal im Kreidemeer, umgeben von Gletschern: Rügen vor Urzeiten. Wir staunen, tasten uns voran, schwimmen im Meer, liegen am Strand, Ungewitter toben über uns, kleine und große Lebewesen kreuzen unseren Weg, unerwartete Begegnungen…
Was für eine Reise! Das muss erst einmal verarbeitet werden. In der Cafeteria gibt es Lübzer Bier vom Fass. Hört sich gut an. Woher kommt das? Aus Lübz, einer kleinen Stadt am Fluss Elde (richtig, mit d!), mitten in der Mecklenburgischen Seenplatte gelegen. Es schmeckt würzig und herb, ein bisschen wie man sich das im Norden vorstellt. Ein schöner Abschluss für einen wunderbaren Tag auf Rügen. Jetzt zurückfahren, vorbei am Großen und Kleinen Jasmunder Bodden, an Störtebekers Raubzüge denken und Stralsunds Silhouette bewundern. Das war sicher nicht der letzte Ausflug.
Das lese ich mit Freude. Wir hatten uns alle richtig warm angezogen. So war die Schönheit zu genießen. Liebe Grüße nach Halle.
Ich freue mich, diese Reise in einem warmen Zimmer verfolgen zu können. Wunderschöne Bilder, aber ich klappere schon wieder mit den Zähnen. Hier verschwindet der Schnee bereits und Blumen tauchen auf.