Was für ein Jubiläum! Am 10. Januar 1863 wurde mit dem ersten Streckenabschnitt der „Metropolitan Line“ die Londoner Untergrundbahn eröffnet. In Eisenbahnwagen, angetrieben von einer Dampflokomotive, fuhren die ersten Fahrgäste zwischen den Stationen Paddington und Farringdon. An diesem Tag immerhin 40.000 Personen!
Wenn die „Metropolitan Railway“ zunächst nur oberirdisch verkehrte, setzte sich schließlich das unterirdische Bausystem in Röhren, eng. „tube“, durch. Was sogleich die von den Londonern gebrauchte Kurzbezeichnung „Tube“ erklärt. Namensgebend wurde die „Metropolitan Railway” übrigens desgleichen für die Pariser „Metro“. Zum Ende des 19. Jahrhunderts sprach man im britischen Englisch allerdings von „Underground“.
Zügig erfolgte zu dieser Zeit der Ausbau der Strecken, so dass weitere Eröffnungsfeierlichkeiten anstanden: 1868 „District Line“, 1869 „East London Line“, 1884 „Circle Line“, 1900 „Central Line“ und 1906 „Bakerloo Line“. Dass Arbeiter die Tube wegen der günstigen Tarife gerne benutzten, beförderte deren Umsiedlung aus dem Zentrum der Stadt in die im Aufbau befindlichen Vorstädte. 1880 nutzten bereits vierzig Millionen Passagiere die neuartige Bahnlinie.
Eifrig arbeiteten Ingenieure an der technischen Weiterentwicklung dieses Verkehrsmittels. Bereits am 2. August 1870 feierten die Londoner mit der „Tower Subway“ die Inbetriebnahme der weltweit ersten Röhrenbahn. Zwei Dampfmaschinen mit vier PS lieferten die Energie für Kabel, die die Wagen durch eine Röhre zogen. Zwanzig Jahre später, am 4. November 1890, fand die Eröffnung der ersten elektrisch betriebenen Untergrundbahnlinie „City and South London Railway“ statt. In den Jahren zwischen 1901 und 1908 wurden die mit Dampf betriebenen Linien weitgehend elektrifiziert.
Das neue Verkehrsmittel veränderte nachhaltig die Wahrnehmung der Stadt London. Fahrgäste konzentrierten sich verstärkt auf die Ein- und Ausstiegsorte. Der dazwischenliegende Stadtraum ging quasi verloren. Die engen dunklen Eingänge und die Geschwindigkeit erforderten Anpassungen, auf die das Individuum mit Distanziertheit und Rückzug ins Innere reagierte.
Wie die Zeitgenossen ihre Erfahrungen reflektierten und wie sich schließlich ein Beschreibungsmusters herausbildete, dokumentiert ein Stapel deutschsprachiger Reiseberichte auf wortgewaltige Weise. Denn zwischen Tag und Nacht, Licht und Schatten bewegen sich die Reisenden und erfahren Bedrohung wie Erlösung. „Aber steigen wir ein!“, fordert ein reisenden Journalist 1873 auf: „Der Zug fährt sogleich ab“!
Alle Sinne sind gespannt. Erinnerungen an Märchen und Traumphantasien tauchen auf. Bereits der Abstieg gestaltet sich als ein einzigartiges Erlebnis. Denn alles ist „in ein unheimliches, aschfahles Zwielicht gehüllt“, eine „eigentümliche mummelige säuerliche Luft streicht an den Wänden umher“, „irgendwie ausgepumpt, halb Antisepsis, halb Parfüm“. Hier droht sich der Reisende zu verirren. Das „Auftauchen und Verschwinden“ der Menschen unter der Erde gleicht zweifellos einem Märchen. Ein „glänzend erleuchteter Zug“ trägt einen „in den Riesenbauch“ hinein, „die Wände eines weiß spiegelnden Rohres jagen an den Fenstern entlang“ und der Zug eilt „im dunklen Feenreich der Erde weiter“. Ist den Ohren zu trauen? Denn „welch’ seltsame, bisher ungekannte Empfindung, die Namen und Straßen und Plätze ausrufen zu hören, die sich dort oben über unserm Haupte befinden, während hier unten eine Station aussieht wie die andre – graue Mauern, mit einem Streifen bleichen Tageslichts und dann wieder undurchdringliche Nacht!“
Gefahr droht, denn der „Gewalt von Eisen, sausender Lautlosigkeit und dem Sausen selbst“ fühlt sich der Passagier ausgeliefert. Zuversicht bietet allein der Anblick der Londoner, „die all dies für den natürlichen Zustand halten, lesen, rauchen und ihre Muße nur selten mit einem flüchtigen Orientierungsblick unterbrechen“. Der Londoner ist an diese Art des Reisens schon so gewöhnt und sitzt entspannt wie in einem Omnibus.
„Geblendet vom Lichte des Tages“, aber mit einem Gefühl der Erleichterung tritt der Fahrgast auf die Straße und ist überwältigt: „ein Duft und ein Zauber umfangen mich, wie wenn ich das Alles jetzt zum ersten Mal empfände. Fast bläulich schimmern die Bäume, die Seespiegel bewegen sich mit tausend flimmernden Wellchen, und dort hinten, aus der dichten Masse von Laub und Schatten, erhebt sich das ehrwürdige, gotische Gemäuer der Kathedrale von Westminster“.
Wen wundert es da noch, dass der bei der Eröffnung der U-Bahn 1863 amtierende Premierminister, der 79jährige Henry John Viscount Palmerston, es vorzog, nicht an der Jungfernfahrt der „Metropolitan Line“ teilzunehmen. Der Überlieferung zufolge kommentierte er dies mit den Worten: „In meinem Alter möchte man so viel Zeit wie möglich oberhalb der Erde verbringen“.
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