Eine gescheiterte Ehe mit dem Verleger Eugen Diederichs, vier Kinder, die dem Vater zugesprochen wurden, und große Anerkennung der deutschen Literaturkritik liegen hinter Helene Voigt-Diederichs als sie im Herbst 1911 zu einer Englandreise aufbricht.
Diese Reise, auf der sie ihr englischer Lebensgefährte, der Zeiss-Ingenieur Steff Hatfield, begleitet, kennzeichnet den Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Der Bruch mit ihrem bisherigen bürgerlichen Leben und der Neubeginn lassen sich an der Darstellung ihrer Eindrücke erkennen. Ihre „Wandertage in England“ sind 1912 erschienen und im Stil eines Tagebuchs verfasst. Auf 108 Seiten wird chronologisch der Ablauf der Reise geschildert, der vom Tempo der jeweiligen Fortbewegung – den eigenen Füßen oder der Eisenbahn – bestimmt ist. Im Vergleich zu ihren bisherigen Werken entfaltet sich hier das erste Mal eine ungeahnte Ausdruckskraft, die unbändige Lebenslust und Abenteuerfreude einfängt und vor Beobachtungsfülle strotzt. Das Reisebuch steht ganz im Zeichen der neu gewonnenen Freiheit und ist bestimmt von der Neugier auf Orte und Menschen.
Doch zunächst betritt sie zögernd den englischen, „Menschen und Gepäck“ verschluckenden Zug und thematisiert in der Gestalt der Gepäckstücke die eigene Unerfahrenheit. Den „derben vielerfahrenen Ledersäcken der Engländer von unbegrenzter Dauer und Aufnahmefähigkeit“ stellt sie die „deutschen Koffer, schamhaft in Hüllen von Leinewand ihre unsolide Jungfräulichkeit jahraus, jahrein bewahrend“ gegenüber.
Die Akzente, die Voigt-Diederichs in ihrer Schilderung setzt, verweisen deutlich auf die Wahrnehmungspraxis der Lebensreformbewegung. Wandern, das bedeutet unmittelbares Erleben der Natur und der Landschaft; Klettern bietet eine Herausforderung der physischen Kondition und der geographischen Orientierung, die nicht immer bewältigt werden kann. So überrascht die Wanderer auf dem Weg nach Stanhope die hereinbrechende Nacht und zwingt sie, in einer verlassenen Steinhütte, geschnittenes Heidekraut als Lager benutzend, zu übernachten. Begegnungen mit anderen Menschen schildert die Autorin nicht aus der Perspektive einer Betrachterin aus dem Zug, sondern ist stets um den direkten Kontakt auf der Straße bemüht. Die Wahrnehmung der Schönheit der Landschaften und idyllischen Dörfer reduziert sie nicht auf das Pittoreske. Stets schließen sich Reflexionen über die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Bewohner an. Deren Beurteilung weist häufig antimoderne und kapitalismuskritische Tendenzen auf.
Mit derart ästhetisch geschultem und am wirtschaftlichen Nutzen orientiertem Blick betrachtet Voigt-Diederichs Früchte tragende Felder, blühende Wiesen, unfruchtbares Moorland und waldiges Hügelland. Schon die Chausseen erscheinen ihr ungewöhnlich reizvoll, eingefasst zwischen Grasstreifen, begrünten Fußwegen und dunklen Hecken. Sie erkennt jede Veränderung und kommentiert diese in Bezug zur Wirtschaftlichkeit für die Bewohner. So bemerkt sie kenntnisreich, wie Weideflächen langsam verschwinden, um „Kornhaufen“ Platz zu machen.
Gleichzeitig versucht sie den Menschen nahe zu kommen und ihre persönlichen Lebensumstände kennen zu lernen. Die Brücke zu diesen Menschen stellt die Arbeit selbst her. Denn so verschieden sie auch sein mag, bleibt sie als bekanntes und erkennbares Element fassbar. Schon kurz nach der Ankunft in Grimsby, als sie Arbeiter beim Ausbessern von Schiffen beobachtet, fühlt sie sich „ohne es noch zu kennen, schon vertraut mit einem Land, in dem mit so viel Kraft und Lust gearbeitet wird.“ Die kritische Betrachtung von Landschaften und Menschen mündet schließlich in ein selbstbewusstes, fast euphorisches Resümé, das eine den eigenen, deutschen Verhältnissen gegenüber gewonnene Offenheit proklamiert, mit dem dieses Reisebuch endet.
Voigt-Diederichs, Helene (1875 – 1961) Schriftstellerin.
Die Autorin war von 1898 bis 1911 mit dem Jenaer Verleger Eugen Diederichs verheiratet. Nach der Scheidung ging sie auf Reisen und besuchte u.a. England und Portugal. Bekannt wurde sie durch Erzählungen und Lyrik sowie als Heimatdichterin. Für ihren 1905 erschienenen Roman „Dreiviertel Stund vor Tag. Roman aus dem niedersächsischen Volksleben“ erhielt sie den niedersächsischen Kulturpreis. Neben Werken von Hermann Löns, Hans Grimm und Lulu von Strauß und Torney, der zweiten Frau von Eugen Diederichs, fanden Helene Voigt-Diederichs’ Bücher Aufnahme in den Kanon der Literatur des „Dritten Reiches“. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen weiterhin Bücher der 1931 (dem Jahr nach dem Tod Eugen Diederichs’) nach Jena zurückgekehrten Autorin, die in Zeiten einer Neuorientierung an traditionellen Werten zunächst weiterhin ein großes Publikum erreichten.
Helene Voigt-Diederichs, Wandertage in England, München 1912.
es ist interessant, über die Schriftstellerin Helene Voigt-Dieterichs einen Artikel zu lesen.
Gefällt mir sehr gut.